Verlegung am 27.01.2022
Der Künstler Gunter Demnig verlegte am
Donnerstag, den 27. Januar 2022,
zum Gedenken der Opfer
fünf Stolpersteine in Holzwickede für
Oiser Schwanhort, Holzwickede, Herderstr. 3, geboren am 4. Februar 1898 …
… im polnischen Waśniów, erlernte den Beruf des Schneiders und siedelte 1919 nach Deutschland um; ab 1928 war er mit Unterbrechungen in Holzwickede wohnhaft. Auch nach Hitlers Regierungsantritt 1933 lebte Schwanhort noch hier, während alle anderen Mitbürger jüdischen Glaubens der Emscherquellgemeinde bereits den Rücken gekehrt hatten, vor allem, um in der Anonymität der Großstadt unterzutauchen. Im Juli 1935 bekam Schwanhort Besuch von zwei SS-Leuten, die ihn „aus der Nachbarschaft holten“. Sie schleppten ihn durch die Straßen und verprügelten ihn bis zur Bewusstlosigkeit. Anschließend wurde er in „Schutzhaft“ genommen und gegen Mitternacht von der Polizei mit der Auflage entlassen, Holzwickede zu verlassen, was er sofort befolgen musste. Auf der Meldekarte dokumentierte man, Schwanhort sei als „lästiger Ausländer“ ausgewiesen worden. Nach mehreren vergeblichen Versuchen wagte Schwanhort im August 1939 schließlich das Risiko, illegal über die Grenze nach Belgien zu kommen, wurde aber in Monschau von der Grenzpolizei aufgegriffen und verhaftet. Nach Gefängnisaufenthalten (wegen „Passvergehens“) in Monschau und Aachen wurde Schwanhort ohne Geld und ohne Ausweispapiere im September 1939 entlassen mit der strikten Auflage, sich bei der Gestapo in Dortmund zu melden, dort würde er seine Papiere wiederbekommen. Doch Oiser Schwanhort wusste wohl zu genau, dass er dieses Risiko nicht eingehen durfte. Zu Fuß kehrte er nach Dortmund zurück, tauchte aber wieder unter und wechselte häufig seinen Aufenthaltsort, um nicht aufzufallen. Mit Glück, Geschick und Unterstützung überlebte er die Nazizeit, führte nach dem Krieg einen langen Kampf um Wiedergutmachung gegen die Behörden und starb im Alter von 75 Jahren in Dortmund.
Foto: © Hermann Volke
Hedwig Steinweg, verheiratete Jacobsohn, Holzwickede, Hauptstr. 44, geboren am 7. Dezember 1886 …
… in Holzwickede. Sie war die Zweitgeborene der weit verzweigten jüdischen Familie Steinweg. Ihr Vater, Anstreicher-meister Selig Moritz Steinweg aus Wickede / Landkreis Dortmund, hatte sich zwei Jahre zuvor mit seiner Ehefrau Johanna, geborene Jonassohn, in Holzwickede niedergelassen und betrieb an der Kaiserstraße 32 ein Tapetengeschäft. Nach ihrer Heirat mit Louis Leo Jacobsohn zog Hedwig Jacobsohn nach Recklinghausen und gebar vier Kinder. 1942 wurden Hedwig Jacobsohn und ihr Ehemann gezwungen, sich nach Gelsenkirchen zu begeben, da dort ein Juden-Sammeltransport zusammengestellt wurde. Auf der Deportationsliste sind beide registriert. Am frühen Morgen des 27. Januar 1942 setzte sich der Zug vom Güterbahnhof Gelsenkirchen in Bewegung. Nach einem Zwischenstopp in Dortmund stiegen weitere 500 Juden dazu. Nach langer Fahrt unter strengster Bewachung der Gestapo traf der Zug im lettischen Riga ein. Hedwig und Louis Leo Jacobsohn sind hier im Ghetto Riga entweder aufgrund der unmenschlichen Haftbedingungen oder bei Massenerschießungen im Wald ermordet worden. Das Amtsgericht Recklinghausen erklärte das Ehepaar 1950 für tot.
Foto: © Hermann Volke
Wilhelm Günther, Holzwickede, Steinstr. 26, geboren am 25. Dezember 1924 …
… in Holzwickede, kam als 14-Jähriger in die Provinzialheil-anstalt Marsberg, da er durch aggressives Verhalten aufgefallen war. Hier wurde er „erbbiologisch erfasst“ und bekam die Diagnose „angeborener Schwachsinn“. Fast schien, als würde der Heranwachsende durch das Raster der Mordmaschinerie der Nazis fallen, die das Ziel hatte, „lebensunwertes Leben“ aus der Gesellschaft zu „entfernen“. Der Junge kam weder in die „Kinderfachabteilung“ Marsberg, noch wies man ihn 1941 nach Dortmund-Aplerbeck ein, als die zentrale Mordstation für Westfalen-Lippe hierher verlegt wurde. Ein Grund könnte sein „guter Kräfte- und Ernährungszustand“ gewesen sein. Die gezielte Vernachlässigung der Patienten in den folgenden Jahren führte auch bei Wilhelm Günther dazu, dass er zum Kriegsende stark an Gewicht abgenommen hatte. 20 Tage nach der Kapitulation Deutschlands starb er in Marsberg an den Folgen der jahrelangen Tortur. Als Todesursache dokumentierte man im Krankenblatt: „Völlige Entkräftung (Hungertod)“.
Foto: © Hermann Volke
Heinrich Wortmann, Hengsen, Weststr. 31, geboren am 2. März 1881 …
… in Lichtendorf, arbeitete nach der Schulentlassung auf der Zeche Caroline. Als Gewerkschaftsmitglied und Vertrauensmann des Christlichen Bergarbeiter-Verbandes setzte er sich für die Belange der Kumpel ein. Er war zudem Mitglied der Deutschen Zentrumspartei. Auf Anweisung eines NSDAP-Funktionärs wurde Wortmann im Juni 1933 während der Nachtschicht aus der Grube gerufen. Seine Einlieferung ins KZ Bergkamen-Schönhausen wurde damit begründet, als SPD-Mitglied habe er „die Regierung verächtlich gemacht“ und sei ein „scharfer Agitator gegen die Nationale Bewegung“. Als der Fehler seiner Parteizugehö-rigkeit herauskam, war er bereits ins berüchtigte KZ Börgermoor bei Papenburg verschleppt worden, wo man ihn bei erbärmlicher Verpflegung zu schweren Moorarbeiten zwang. Nach seiner Entlassung im September 1933 musste der 52-Jährige bei null anfangen. Er war völlig mittellos und hatte seine Stelle bei der Zeche verloren. Wortmann überlebte die Nazizeit und starb am 26. September 1962 in Hengsen. Hier und in Opherdicke war er bis weit über seinen Tod hinaus als „Erzberger“ bekannt (nach dem 1921 ermordeten Zentrumspolitiker Mathias Erzberger).
Foto: © Hermann Volke
Charlotte Temming, Hengsen, Unnaer Str. 1, geboren am 4. April 1903 …
… in Aachen, lernte nach dem Abitur zunächst den Beruf der Goldschmiedin. 1929 heiratete die Jüdin und zog mit ihrem Ehemann nach Dortmund, wo sie sich der Ortsgruppe des „Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ anschloss und Gedichte veröffentlichte. Nach Hit-lers Regierungsantritt wurde sie verhaftet und kam in die Steinwache. Später wurde sie „wegen Tarnung“ zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt worden, weil sie in ihrer Kennkarte nicht das amtlich vorgeschriebene „J“ eintragen und beim Standesamt ihres Geburtsortes nicht den zusätzlichen Vornamen „Sara“ beurkunden ließ. Sie begleitete immer wieder jüdische Bekannte zum Sammelpunkt in der Steinstraße zur Deportation in die Konzentrationslager. 1943 erhielt sie selbst den Deportationsbefehl, konnte sich im letzten Augenblick dem Zugriff der Gestapo entziehen, tauchte unter und hielt sich mit Hilfe von Freunden bis Kriegsende versteckt. Zum Ende des Krieges lebte sie unentdeckt bei der Familie des späteren Bürgermeisters Ludwig Adrian in Hengsen. In den Gedichten, die sie nach dem Kriege publizierte, ging es vor allem um die Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft sowie die Nöte in der Nachkriegszeit. Sie verstarb 1984 in Dortmund.
Foto: © Hermann Volke
Autor: Ulrich Reitinger